Warum

Warum im Kollektiv arbeiten?

Ein Gesprächsprotokoll

Die Gründe, in einem Kollektiv zu arbeiten, sind vielfältig: Manche reizt die Herausforderung: die Organisation eines Betriebs gemeinsam mit allen Beteiligten. Andere fühlen sich einfach wohler, wenn sie um zwölf anfangen können, ohne dass die Kollegen komisch gucken. Für wieder andere lautet das wichtigste Argument: keine Chefs und keine Chefinnen! „Ich schätze es sehr, dass niemand mir Weisungen erteilt“, sagt zum Beispiel Stephan vom ORI. Das ORI ist eine Mischung aus Bar, Galerie und Projektraum in der Friedelstraße in Neukölln.

„Bei mir ist es ähnlich“, erzählt Jannis. Er arbeitet beim Fahrwerk, einem Kollektiv Berliner Fahrradkuriere. Jannis hat vorher in einer Kurierfirma mit Chef gearbeitet, inzwischen fährt er fürs Fahrwerk. „Jetzt arbeite ich für ‚meine Firma’. Ich kenne die Zahlen, weiß, wie man mit den Kunden umgeht. In allen Fragen, die die Firma betreffen, entscheide ich mit: über den Lohn oder darüber, welcher Kunde Rabatte bekommt. Meine Meinung zählt, das ist ein gutes Gefühl.“

Das Fahrwerk ist ein relativ junges Kollektiv. Es wurde im Jahr 2009 von Berliner Kurier*innen gegründet, die mit ihren Arbeitsbedingungen unzufrieden waren. „Unterbezahlung, fehlende soziale Absicherung und schlechtes Arbeitsklima? Sie finden, das passt nicht zum Bild des netten, zuverlässigen Kuriers, der jeden Tag ihre Sendungen abholt? Wir auch nicht!“ So steht es auf einem Werbeflyer des Fahrwerks. Der Konkurrenz, die oft auch unter den Fahrer*innen herrscht, wollten die Gründer*innen ein solidarisches Miteinander entgegen setzen. Das klappt ganz gut, erzählt Jannis, mittlerweile seien einige Kurier*innen wie er dabei, die von der Arbeit bei ihrem alten Unternehmen die Nase voll hatten. „Bei uns ist die Atmosphäre viel besser. Und das macht viel aus.“

 

„Die Atmosphäre ist gut, das macht viel aus.“


Das bestätigt auch Philipp, der das Fahrwerk mitgegründet hat. „Einheitslohn und gute Stimmung“ ist seine Antwort auf die Frage, warum er im Kollektiv arbeitet. Der Satz kommt wie aus der Pistole geschossen. Allerdings, fügt Jannis hinzu, komme das Fahrwerk gerade erst an den Punkt, an dem man mit Vollzeitarbeit davon leben könne. Viele Kurier*innen beim Fahrwerk arbeiteten nur Teilzeit. Für sie ist das Fahren bisher ein Zuverdienst. Aber die Einstiegshürden sind niedrig, keine großen Vorkenntnisse nötig. „Man kann sich einfach aufs Fahrrad setzen und los geht’s.“

Gerade bei jungen Kollektiven ist oft eine große Portion Idealismus nötig, bis der Betrieb auf ökonomisch halbwegs sicherem Boden steht. Manche sagen auch „Selbstausbeutung“ dazu. Sowohl Stephan vom ORI als auch Jannis erzählen, dass sie bei Krankheit oft trotzdem zur Arbeit gehen. „Es ist zwar okay zu sagen, ich kann heute nicht – nicht nur wegen Krankheit“, meint Stephan. „Aber das Verantwortungsgefühl gegenüber dem Projekt ist doch groß. Also komme ich oft, auch wenn ich mich eigentlich nicht danach fühle.“ Und Jannis erzählt, es komme vor, dass Kurier*innen die nicht fahren können, weil sie sich Arm oder Bein gebrochen haben, am Telefon säßen und Kundenanrufe entgegen nähmen.

 

„Bei uns verdient ein Ungelernter genauso viel wie ein Ingenieur.“


Diesen Druck kennt auch Martina Fuchs, auch wenn die Bedingungen ansonsten unterschiedlicher kaum sein könnten. Martina arbeitet in einem der ältesten Kollektive Berlins: Oktoberdruck. 1973 wurde die Druckerei gegründet. Inzwischen ist sie ein Unternehmen mit 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, das hoch spezialisiert und arbeitsteilig produziert. Die Konkurrenz im Druckgewerbe ist groß, und die Technik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten häufig verändert, mehrmals musste Oktoberdruck große Investitionen schultern. Dabei geht es durchaus um Millionenbeträge. Das geht nur mit Bankkrediten – „mit Investitionsplänen und allem drum und dran.“

Martina Fuchs ist seit Mitte der 1980er Jahre dabei. „Für mich war das Attraktivste die Gleichbewertung der Arbeit“, sagt sie. „Der Ungelernte verdient genauso viel wie der Ingenieur.“ Ein zweiter Punkt, der ihr wichtig ist, gerade angesichts der großen Summen, mit denen Oktoberdruck hantiert: Das unternehmerische Risiko wird geteilt. „Das bedeutet mehrerlei: Zum Beispiel haben alle eine große Verantwortung für ihre Arbeit, sie müssen sie gut machen. Du kannst bei uns nicht arbeiten mit einer Arbeitnehmermentalität, wo Feierabend bedeutet, dass du den Hammer fallen lässt und bis morgen früh um acht nicht mehr an die Arbeit denkst. Du musst aber auch bereit sein, wichtige und manchmal unangenehme Entscheidungen zu treffen für den Betrieb – und du musst sie mittragen. Die Sache funktioniert, auf der Grundlage, dass wir Schwierigkeiten nicht erst angehen, wenn es zu spät ist.“

 

„Mit Arbeitnehmermentalität kannst du bei uns nicht arbeiten.“


Oktoberdruck hat bereits einige schwierige Situationen hinter sich gebracht. Anfang der 2000er Jahre war das Unternehmen bei der Investition in eine neue Druckerei mit Risiken und baulichen Problemen konfrontiert und stand finanziell am Abgrund. Das Kollektiv versuchte, es ohne Insolvenzverwalter zu regeln, sanierte, baute Personal ab. 14 Leute verließen Oktoberdruck in dieser Zeit, für die meisten, erzählt Martina, gab es aus heutiger Sicht ganz gute Lösungen. Zum Beispiel wurden Arbeitsplätze im Umfeld gesucht und gefunden. Aber auch für die übrigen 22 war es nicht leicht, denn die Arbeit wurde nicht weniger. In Wochenendseminaren haben die Verbliebenen sich weitergebildet, an einem neuen Leitbild gearbeitet, das ökologische Profil der Druckerei geschärft – das alles parallel und zusätzlich zum laufenden Betrieb.

Ein Ergebnis dieser Erfahrungen ist eine ausgefeilte Betriebsverfassung, die festlegt, welche Entscheidungen wie zu treffen sind. Das Konsensentscheidung, für viele Kollektive ein heiliges Prinzip, hat Oktoberdruck Anfang der 1990er abgeschafft. Seitdem wird mit Mehrheiten entschieden. Für Entscheidungen in der Betriebsversammlung gilt die einfache Mehrheit, es wird jedoch immer auf eine möglichst hohe Zustimmung hingearbeitet.  Erfahrungsgemäß werden die meisten Entscheidungen mit einer Dreiviertelmehrheit getroffen. Dieses Prinzip hat sich bewährt, findet Martina. Auch wenn die Mehrheitsentscheidung für die unterlegene Gruppe nicht einfach sei. „Die Arbeit im Kollektiv fordert von allen persönlich sehr viel, das stimmt“, sagt Martina. Ihr Fazit ist dennoch positiv: „Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass es gut ist, wie wir es machen. Auch weil der Anspruch damit verbunden ist, dass sich alle Beteiligten gemeinsam weiterentwickeln. Die Einflussmöglichkeiten und die Arbeitsqualität sind mir die Anstrengung wert. Und wiegen auch die niedrigere Bezahlung auf.“


„Wir haben eine Arbeitsflatrate. Die Bezahlung dafür schwankt.“


Ist die geringe Bezahlung ein Markenzeichen von Kollektiven? „Reich wird man bei uns nicht“, räumt Pierre vom Gestaltungsbüro Image-Shift ein. Image-Shift ist ein Zwei-Mann-Büro für visuelle Kommunikation am Kottbusser Tor, es erstellt Plakate, Flyer, Broschüren, Bücher und Webseiten. Die Produktion ist aber der kleinere Teil der Arbeit, im Vordergrund steht Kommunikation. „Leute kommen mit Problemen zu uns, und wir versuchen, sie zu lösen – mit Geduld, Kaffee und viel Liebe“, so beschreibt Pierre die Arbeit von Image-Shift. Und kann man davon leben? „Wir bezahlen uns einen Festpreis im Monat, darin ist alles enthalten: Arbeitszeit, Besprechungszeit, Nachdenken über die Arbeit – wir haben eine Arbeitsflatrate. Wie hoch die ausfällt, schwankt, je nach Monat und Auftragslage.“

Auch Pierre ist der Meinung, dass bei der Arbeit im Kollektiv mehr Selbstverwirklichung möglich ist als anderswo. „Bei einem normalen Job kriegst du eine Aufgabe und musst dann gucken, ob dir das Spaß macht. Bei uns ist es andersrum: Wir schauen, worauf wir Lust haben oder was sinnvoll wäre, und gucken dann, ob es finanzierbar ist.“ Zu den Kund*innen von Image-Shift gehören Medienprojekte Kulturinstitutionen und Stiftungen ebenso wie kleine Initiativen und politische Zusammenschlüsse, für die das Büro arbeitet, auch wenn es sich ökonomisch nicht lohnt. „Wir verstehen uns nicht als Dienstleister“, sagt Pierre, „das ist wichtig. Wir treten in einen Austausch mit unseren Kunden, wir arbeiten auch inhaltlich mit. Mit unseren Vorschlägen und Ideen müssen sie sich auseinandersetzen. Wenn sie das nicht wollen, gibt es keine Zusammenarbeit. Auch das können wir uns leisten, weil wir ein Kollektiv sind und gemeinsam entscheiden.“


„Die Kunden müssen mit uns diskutieren, wir sind keine Dienstleister.“


Auch bei der Backstube kommt es vor, dass Kund*innen abgelehnt werden. Die Backstube ist ein Bäckereikollektiv, 1981 wurde es gegründet. Seitdem backt es Biobrote und -brötchen, die im Laden verkauft und an Naturkostläden, Cafés und andere Abnehmer*innen geliefert werden. „Früher gab es nur wenige solcher Kunden“, erzählt Michael, „heute sind es mehr, und nicht alle können mit der Entscheidungsstruktur eines Kollektivs etwas anfangen.“ Wer bislang mit einer normalen Bäckerei zu tun hatte, sei es nicht gewohnt, dass es keine Chef*in gibt, mit dem man alles absprechen kann, dass bei Entscheidungen die Mitarbeitendenversammlung mitredet. Viele Kund*innen seien davon zunächst überrascht, könnten sich aber gut darauf einlassen. Und wenn man miteinander auskomme und die Rechnungen bezahlt werden, stehe einer Zusammenarbeit nichts im Weg. „Aber manchmal kommt es zu Reibereien, den Kunden geht es zu langsam mit den Absprachen, sie nörgeln rum. Dann kommt es auch mal vor, dass wir die Zusammenarbeit beenden“, sagt Michael. Die selbstbewusste Einstellung zu den eigenen Backwaren bringt das Kollektiv auch auf hauseigenen T-Shirts zum Ausdruck, die Vollkornenthusiastinnen dort erwerben können. Auf der Vorderseite ist ein Totenkopf abgebildet, darunter zwei gekreuzte Baguettestangen und die Parole „Vollkorn oder Tod“. Auf der Rückseite steht: „Die Backstube – ist das Brot zu hart, seid ihr zu weich.“


„Wir machen unsere Arbeit mit Herzblut. Für Kunden ist das ein Riesenvorteil.“


Bedeutet Kollektivarbeit also, dass es für die Kund*innen anstrengender wird als üblich? „Vielleicht“, sagt Stephan vom ORI. „Sie müssen sich auf uns und unsere Arbeitsweise einlassen. „Aber dafür bekommen sie oft auch mehr als sie erwarten können. Die Leute, die im Kollektiv arbeiten, machen die Dinge, die sie mit Herzblut machen. Das ist ein Riesenvorteil für alle Kunden.“

Das kann Haiko bestätigen. Er hat mit anderen einen Club aufgebaut, der sich bei Freund*innen des Nachtlebens großer Beliebtheit erfreut. „Im Kollektiv bringen alle das ein, was ihnen wichtig ist; wir alle versuchen, unsere Ansprüche an einen guten Club umzusetzen. Einer hat hohe Ansprüche an die Bar, ein anderer an die Lichttechnik. So kommt in jedem Bereich eine gute Qualität zustande. Dieses Zusammenspiel ermöglicht erst das Gesamtprodukt. Ein Chef könnte unmöglich an all das denken, was den elf Chefs, die wir sind, zusammen einfällt.“