Utopie

Kooperativen, Kollektive & Projekte

Der Traum vom anderen Arbeiten hat eine lange Geschichte.

„Es ist wirklich erstaunlich, wie die Leute auf unserer Webseite landen. Zum Beispiel über Google Bilder. Sie suchen ein Bild von einem Schinken, wir haben eins – Klick, da sind sie.“ Herbie ist einer von drei Aktiven eines Minikollektivs, wenn man es so nennen will: der Schnittstelle. Die Schnittstelle organisiert in Berlin den Vertrieb von Produkten aus „unabhängigen, kleinen sozial und ökologisch wirtschaftenden Produktionsgemeinschaften“, wie es auf der Webseite heißt. Sie ist das Gegenbild zum Handelskonzern, der die Lidls und Aldis dieser Welt bestückt, ein Gegenbild allerdings auch in Bezug auf die Größe. Doch die Schnittstelle ist ein Knotenpunkt im Netz der Berliner Kollektive – zumindest derjenigen, die mit Lebensmitteln zu tun haben. 

Kollektive?„Heute kommt eigentlich niemand mehr zu uns und will ein ‚Kollektiv’ gründen“, sagt Wilfried Schwarz vom RGW Beratungsbüro. „ Heute sagen die Leute: ‚Wir machen Permakultur’ oder ‚Wir haben einen Verein, der macht das und das’.“ Das RGW Büro in der Richardstraße in Berlin-Neukölln schult und berät Projekte, die – auf welche Weise auch immer – selbstverwaltet, gleichberechtigt, kooperativ geführt sind. „Früher hieß das ‚Kollektive’ und war politisch wahnsinnig aufgeladen“, sagt Wilfried Schwarz. „Heute gibt es gar keinen gemeinsamen Oberbegriff mehr.“

 

England – Mutterland des Kapitalismus, Mutterland der Kooperativen

 

Der Gedanke, etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten und sich zugleich dem Druck des kapitalistischen Marktes zu entziehen, ist nicht neu. Schon um 1830 entstanden, zuerst in England Kommunen und Kooperativen, die die Möglichkeit eines freien, selbstorganisierten Zusammenlebens beweisen sollten. Auch Gewerkschaften griffen damals den Gedanken auf, um ihren arbeitslosen oder im Streik ausgesperrten Mitgliedern ein Auskommen zu bieten und Arbeitskämpfe besser durchzustehen. Der Ursprung der Wohnungsgenossenschaften geht ebenfalls auf diese Geschichte zurück.

Beflügelt durch die gegenkulturelle Bewegung von 1968 lebte der Gedanke wieder auf. Die Kritik an entfremdeter und zerstückelter Lohnarbeit im industriellen Kapitalismus, an Massenproduktion und –konsum und der Wunsch nach Sinn, Selbstbestimmung und Autonomie lieferten die Stichworte für das erneute Experiment mit alternativen Lebens- und Arbeitsformen. Nach den bewegten Jahren Anfang der 1970er war die Idee, bereits im Hier und Jetzt eine Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft aufzubauen, für viele attraktiv. Politik sollte keine Freizeitbeschäftigung mehr sein. Die selbstverwalteten Organisationsformen, die beim Wohnen in Wohngemeinschaften und in Zeitschriften, Kinderläden oder Kneipen bereits erprobt wurden, sollten auf alle Bereich des (Arbeits-)Lebens ausgedehnt werden.

 

Alternativen im Alltag: zeigen, dass es besser geht

 

„Man kann sich heute kaum noch vorstellen, welchen Anstoß man damals mit alternativen Vorstellungen erregte“, erzählt Wildfried Schwarz. Bis 1981 arbeitete er in politischen Projekten mit Heimkindern, dann in einer linken Bäckerei. „Eine Bäckerei, die ihr Brot in linke Flugblätter einwickelte und den Laden dichtmachte, wenn ein besetztes Haus geräumt wurde, war damals noch eine echte Provokation.“ 

Die Irritation war durchaus beabsichtigt. Für die Mehrzahl der Beteiligten war Selbstverwaltung Programm und Praxis zugleich. Durch die gemeinsame, gleichberechtigte Entscheidung aller Beteiligten sollten sich die Verhaltensweisen und Beziehungen verändern, ein selbstbestimmtes, lustvolles Arbeiten möglich werden. „Wir wollten“, sagt Wilfried Schwarz, „uns nicht in die bestehende Gesellschaft eingliedern, sondern im eigenen Alltag beweisen, dass man es besser machen kann. Wir wollten zeigen: Unser Brot riecht anders, schmeckt anders, sieht anders aus – und die Leute sehen auch anders aus.“

Solche Projekte gab es bald in allen erdenklichen Bereichen: selbstverwaltete Kneipen und Apotheken, Arztkollektive und Reiseveranstalter, Projekte im Gesundheitsbereich und Landkommunen, Naturkostläden, Druckereien, Technologieprojekte, Werkstätten – und natürlich Zeitschriften wie die radikal in Berlin oder den Pflasterstrand in Frankfurt, in denen die Erfahrungen diskutiert wurden. Mitte der 1980er Jahre sollen bundesweit mehrere Zehntausend Menschen in gut 4.000 Kollektiven gearbeitet haben.

 

Kollektive zwischen Selbstentfaltung und Selbstausbeutung

 

Doch von Anfang an war die Kollektivarbeit auch von Konflikten begleitet. Im Mittelpunkt stand der Widerspruch zwischen der Selbstentfaltung der Kollektivmitglieder und der zum Funktionieren nötigen Arbeitsdisziplin, zwischen den politischen Zielen und den Erfordernissen des Marktes: Welchen Stellenwert kann man dem Lustprinzip einräumen, wenn unangenehme Arbeiten zu erledigen sind? Geht das Kollektiv gemeinsam zur Demonstration, oder muss der Laden geöffnet werden? Und wie viel Einsatz kann man vom Einzelnen verlangen, wenn das gemeinsame Projekt finanziell in der Klemme steckt?

Der Historiker Arndt Neumann schrieb über dieses Dilemma: „Solange die Alternativprojekte über eine solide finanzielle Grundlage verfügten, ermöglichte die alternative Arbeitsorganisation dem Einzelnen ein hohes Maß an Autonomie. Die ökonomische Situation der meisten Alternativprojekte sah jedoch grundlegend anders aus. Angesichts ihrer geringen finanziellen Reserven standen viele Alternativprojekte schon bald vor der Wahl, aufzugeben oder den eigenen Wettbewerbsnachteil durch Mehrarbeit und durch eine an Effizienz orientierte Arbeitsorganisation auszugleichen.“ Schon 1975 hatte Rolf Schwendter, Herausgeber mehrerer Sammelbände zum Thema, festgestellt: „Ein strukturelles Prinzip der alternativen Ökonomie ist das der Selbstausbeutung.“ Ähnlich sah es wohl ein Mitglied eines Frankfurter Druckkollektivs, das in der Zeitschrift Pflasterstrand klagte: „Ich habe in zwei Jahren mehr gearbeitet dort, als in drei Jahren in der Fabrik. Ist das alternativ?“ 

 

Die Geschäftsführer der Alternativbewegung

 

Der Umgang mit diesem Problem sah unterschiedlich aus. Viele Kollektive verwandelten sich im Laufe der Zeit in „ganz normale“ Unternehmen, in denen die, die mehr Verantwortung übernahmen oder sich in Konflikten durchsetzten, die neuen Chefinnen und die anderen die Angestellten wurden. Andere hielten die kollektive Eigentümerschaft aufrecht, verabschiedeten sich aber von zentralen Prinzipien der Anfangszeit. Aus Bedarfslohn wurde Schichtlohn; die Arbeitsteilung hielt wieder Einzug; der Anspruch, eine bessere Gesellschaft vorzuleben, wich der genügsameren Gewissheit, unter erträglichen Bedingungen ein gesellschaftlich sinnvolles Produkt herzustellen. Auch der Staat griff gern auf die günstigen Angebote der alternativen Enthusiasten zurück, besonders im Gesundheits- und Sozialbereich. Öffentliche Gelder förderten die Professionalisierung der Projekte und ihre Integration in staatliche Sozialprogramme. In wieder anderen Fällen verließen die Leitfiguren nach einigen Jahren die Projekte und gründeten eigene, oft sehr erfolgreiche Firmen.

Doch der Wandel war auch begleitet von heftigen Konflikten über den Verlust des politischen Anspruchs oder die Rolle der neuen „Geschäftsführer der Alternativbewegung“ (so der Titel eines kritischen Aufsatzes von 1979). Trotzdem ist die Geschichte der Alternativprojekte keine Geschichte des Scheiterns. Die Kollektive haben dazu beigetragen, dass sich die Einstellung zur Arbeit in der Gesellschaft verändert hat, dass sich „postmaterielle Werte“ (wie die Soziolog*innen sagen) ausgebreitet haben.

 

Was ist aus dem Traum vom anderen Arbeiten geworden?

 

Der Traum vom anderen Arbeiten ist nicht einfach verschwunden. Manche Projekte aus den 1970ern gibt es heute noch, auch wenn sie sich unterwegs verändert haben. Und es werden immer noch und immer wieder neue gegründet. Die Motivation dabei hat sich jedoch, wie Wilfried Schwarz aus seiner Beratungsarbeit weiß, grundlegend verändert. Explizit politische Gründe stehen nur noch selten im Vordergrund. „Besonders junge Leute, die heute ein Projekt gründen, haben das Gefühl, die Gesellschaft braucht sie nicht. Sie warten ewig auf einen Ausbildungs- oder Studienplatz, finden keine gute Arbeit oder werden vom Jobcenter gegängelt. Irgendwann sagen sie sich: Dann nehmen wir es doch lieber selbst in die Hand.“ Die Hemmschwellen, solche Projekte zu starten, seien gesunken, sagt Schwarz. In den letzten Jahren hat er einen kleinen Boom an kollektiven Neugründungen bemerkt.

Die Bedingungen dafür sind heute anders als vor 30 Jahren. Die Nischen sind kleiner geworden, Mieten gestiegen. Staatliche Gelder fließen weniger üppig, eine große linke Szene als Biotop der Projekte ist verschwunden. Doch manches ist auch einfacher: Ökologisch oder sozial orientierte Unternehmungen sind heute breit akzeptiert, Kooperation und eigenständiges Handeln in der Arbeitswelt eine Selbstverständlichkeit. Nicht nur Herbie von der Schnittstelle hat die Erfahrung gemacht: Computer und Internet haben Möglichkeiten zur Vernetzung untereinander und mit den Konsumenten geschaffen, von denen die Kollektivler*innen des vergangenen Jahrtausends nur träumen konnten. Und viele Leute wissen heute nur zu gut, was kapitalistisches Wachstum vor allem bedeutet: mehr Armut, mehr Elend, mehr Klimakatastrophen und mehr Krise.

Dass es anders und besser geht, versteht sich da eigentlich von selbst, oder?